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Wechselspiel von Proteinen legt jungen Patienten lahm

Dortmund, 29. August 2024

Als Ärzte und Naturwissenschaftler am Universitätsklinikum Essen einen Sechsjährigen mit der neuromuskulären Erkrankung NEDHFBA untersuchten, konnten sie nicht ahnen, welche Ergebnisse eine einzelne Patientenprobe liefern würde. Forschenden des ISAS und der Abteilung für Neuropädiatrie am Universitätsklinikum Essen (UK Essen) fanden erstmals heraus, wie Proteine die Entstehung der seltenen Erkrankung beeinflussen. Ihre umfassende Analyse könnte auch Aufschluss über weitere neuromuskuläre Erkrankungen geben.

Der sechsjährige Junge konnte lächeln, aber nicht sprechen. Seine Muskeln waren so schwach ausgebildet, dass er nur mit Hilfe aufrecht zu sitzen vermochte. Laufen war für ihn unmöglich. Driftete er in den Schlaf, blieben seine Augen halboffen. Die Essener Kinderneurolog:innen vermuteten eine neurologische Entwicklungsstörung. Eine Erbgut-Analyse ergab, dass der Junge zwei Mutationen in einem Gen namens PPP1R21 hatte. Das Protein, welches durch dieses Gen gebildet wird, beeinflusst viele wichtige Prozesse in den Zellen, darunter das Wechselspiel vieler verschiedener Proteine. Beide Eltern des Patienten waren gesund. Doch ohne es zu ahnen, trugen sowohl der Vater als auch die Mutter neben einer „normalen“ Version von PPP1R21 je eine veränderte Variante in ihrem Erbgut. Zufällig hatten beide jeweils Letztere an ihren Sohn weitergegeben. Nun im Doppelpack vorhanden, entfaltete diese sogenannte homozygote Mutation im Jungen ihre schädigende Wirkung.

Mediziner:innen fassen die Beeinträchtigungen, die die PPP1R21-Variante verursacht, mit der Abkürzung NEDHFBA zusammen. Diese steht für Englisch „neurodevelopmental disorder with hypotonia, facial dysmorphism, and brain abnormalities“, also neurologische Entwicklungsstörung mit schwachem Muskeltonus, Abweichungen in der normalen Gesichtsanatomie und Gehirnanomalien. Beim jungen Patienten fielen die Störungen noch mild aus. So waren bei ihm etwa keine typischen Gehirnabnormitäten von NEDHFBA zu finden. Viele Patient:innen, die an dieser Erkrankung leiden, haben weniger weiße Substanz im Gehirn, ein unterentwickeltes Kleinhirn und größere Ventrikel (Hohlräume).

Kombination: biochemische, mikroskopische und zellbiologische Analysen

„Bis dato wussten wir nur wenig über den Pathomechanismus von NEDHFBA, also die Genese der Erkrankung“, sagt PD Dr. Andreas Roos von der Abteilung für Neuropädiatrie am UK Essen und der Abteilung für Neurologie des Childrens Hospital of Eastern Ontario (Ottawa, Kanada). Roos ist Adjunct Professor an der University of Ottawa. Bereits 2021 hatten er sowie ISAS-Forschende in Kooperation mit Wissenschaftler:innen des UK Essen belegt, dass sich neuromuskuläre Erkrankungen gut über einen einfach zugänglichen Zelltyp studieren lassen, nämlich über Fibroblasten aus der Haut. Um nun herauszufinden, welche molekularen Abläufe bei NEDHFBA relevant sind, untersuchten die Forschenden am ISAS die Gewebeprobe des Jungen.

Portrait von PD Dr. Andreas Roos.

PD Dr. Andreas Roos ist Adjunct Professor an der University of Ottawa und Leiter der präklinischen Forschung der Abteilung für Neuropädiatrie der Uni versitätsmedizin Essen.

© Privat

Das Team nutzte eine Methode der DNA-Sequenzierung, bei der speziell die proteinkodierenden Regionen des Genoms, also die Exone aller Gene, sequenziert werden, und untersuchte sie auf Mutationen. Die Forschenden legten darüber hinaus Zellkulturen der Fibroblasten an, um nachzuverfolgen, welche Vorgänge in den Zellen anders als gewohnt abliefen. Mithilfe hochsensitiver Massenspektrometer konnte das Team um Dr. Andreas Hentschel zudem das Proteom, also die Gesamtheit der Proteine in den Zellen des Jungen, qualitativ wie auch quantitativ analysieren. „Jeder Analyt in einer Probe hat eine bestimmte Masse, die man eindeutig zuordnen kann. Darüber lässt sich das jeweilige Protein mittels Massenspektrometrie identifizieren“, resümiert Hentschel das Prinzip der umfassenden Proteomics-Analyse.

Die verschiedenen biochemischen, mikroskopischen und zellbiologischen Untersuchungen ergaben, dass aufgrund von Mutationen im PPP1R21-Gen bestimmte Proteine in den Zellen des Patienten zwar weiterhin gebildet werden, aber in abweichenden Konzentrationen vorhanden oder instabil sind. Insgesamt trifft dies auf rund 18 Prozent der Proteine zu, die mittels der Massenspektrometrie untersucht wurden, berichteten die Forschenden gemeinsam im Journal Molecular Neurobiology.

Dysregulation verschiedener Proteine

Aufschlussreich war auch, welche Proteine betroffen sind. Einerseits scheint in den Zellen des jungen Patienten etwa das Proteasom überaktiviert. Es handelt sich dabei um einen zellulären Apparat, der unerwünschte oder überalterte Proteine entsorgt. Dies führe laut Roos wahrscheinlich zu einem übermäßigen Abbau. Gleichzeitig, und vermutlich damit verbunden, ist das Zytoskelett der Zellen gestört, also die aus Proteinfasern aufgebaute Architektur. Das wirkt sich wiederum auf Anordnung bestimmter Strukturen aus, auch Zellpolarität genannt. „Gerade bei Nervenzellen, also Neuronen, ist die Polarität unheimlich wichtig. So wissen die Zellen, in welche Richtung sie auswachsen müssen“, sagt Roos.

Weltweit sind nur rund ein Dutzend Fälle von NEDHFBA bekannt. Doch die Krankheit fällt in das breite Spektrum der neuromuskulären Erkrankungen, von denen – je nach Schätzung – zwischen sieben und 80 pro 100.000 Kinder betroffen sind1. Das sind in Deutschland bis zu ein paar hundert Neugeborene pro Jahr. „Grundsätzlich versuchen wir als Forschende, bei solchen Erkrankungen zu sehen, ob Gemeinsamkeiten bzw. wiederkehrende Muster auftreten“, erklärt Hentschel. Er ergänzt: „Vielleicht läuft bei verschiedenen neuromuskulären Erkrankungen etwa die Stabilität und bzw. oder Aktivität von Proteinen und damit verbunden von bestimmten Stoffwechselwegen immer wieder falsch. In so einem Fall kann man sich fragen: Was ist nötig, damit diese Proteinfunktionen wieder fehlerlos stattfinden?“

Portrait Andreas Hentschel.

Dr. Andreas Hentschel ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der ISAS-Forschungsgruppe Proteomics.

© ISAS

Lesetipp

Hentschel, A., Meyer, N., Kohlschmidt, N., Groß, C., Sickmann, A., Schara-Schmidt, U., Förster, F., Töpf, A., Christiansen, J., Horvath, R., Vorgerd, M., Thompson, R., Polavarapu, K., Lochmüller, H., Preusse, C., Hannappel, L., Schänzer, A., Grüneboom, A., Gangfuß, A. & Roos, A.

(2023). A Homozygous PPP1R21 Splice Variant Associated with Severe Developmental Delay, Absence of Speech, and Muscle Weakness Leads to Activated Proteasome Function. Molecular Neurobiology, 60:2602–2618.

Der Erkrankung einen „therapeutischen“ Korb geben

Für die kleinen Patient:innen und ihre Familien sind weitere Studien entscheidend. Meist sei die Zahl der Betroffenen bei jeder individuellen Erkrankung zu klein, als dass die Pharmaindustrie Geld investieren würde, um speziell dafür eine Therapie zu entwickeln. „Wenn wir den Pathomechanismus verstehen und sich herausstellt, dass ähnliche Prozesse bei mehreren Erkrankungen eine Rolle spielen, kann das den Markt für neue Arzneimittel potenziell groß genug machen“, sagt Roos. In der Industrie ist dieser Ansatz als „Basket Trial“ bekannt, weil unterschiedliche Erkrankungen in den gleichen Korb (Basket) einer einheitlichen therapeutischen Strategie gelegt werden.

Im günstigsten Fall braucht es kein neues Medikament, wenn es bereits zugelassene Arzneimittel für andere Erkrankungen gibt, die auch bei NEDHFBA hilfreich sein könnten. Dafür bedarf es jedoch weiterer Forschung.

„Wegweisend für das Verständnis neuromuskulärer Erkrankungen“

Die Erkenntnisse aus der Fibroblasten-Analyse des sechsjährigen NEDHFBA-Patienten sorgten entsprechend für Aufmerksamkeit. „Die Erkenntnisse haben eine unheimliche Strahlkraft“, sagt Roos, der als einer der korrespondierenden Autor:innen seit der Veröffentlichung des Papers mehrere Anfragen von Mediziner:innen aus der ganzen Welt bekam. Die von Hentschel und Kolleg:innen angewandte Methode erlaubt es auch einzuschätzen, ob Kinder von Träger:innen diagnostizierter andersartiger Mutationen im PPP1R21-Gen ebenfalls potenziell anfällig für neurologische Störungen sind.

„Wir haben einen Grundstein gelegt und auf zellulärer Ebene gezeigt, dass sich anhand der Fibroblasten die krankmachende Wirkung von Gen-Mutationen bei neuromuskulären Erkrankungen wie NEDHFBA erschließen lässt“, sagt Roos. „Das ist nicht nur wegweisend für das Verständnis dieser Erkrankungen, sondern könnte es auch erlauben, Paaren mit bekannten Mutationen im PPP1R21-Gen und einem Kinderwunsch eine spezifische genetische Beratung anzubieten.“

1 https://www.mdpi.com/journal/children/special_issues/Neuromuscular_Disorders_Children_Adolescents

(Ute Eberle)

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