Dortmund, 15. Dezember 2022
Zeit ist beim Neugeborenen-Screening ein kritischer Faktor, wenn es darum geht, Hormon- oder Stoffwechselerkrankungen zu identifizieren. Mit ein paar Tropfen Blut kurz nach der Geburt lassen sich etwa das sogenannte Adrenogenitale Syndrom (AGS), eine Hormonstörung in der Nebennierenrinde, oder die seltene Erbkrankheit Mukoviszidose feststellen. Je schneller die Diagnose fest steht, desto besser stehen die Chancen, etwa Organschäden, Entwicklungsstörungen oder geistigen Behinderungen bei Säuglingen entgegenzuwirken. Genau deswegen ist Dr. Marcos Bouza Areces von der University of Jaén (Spanien) ans Leibniz-Institut für Analytische Wissenschaften – ISAS – e.V. gekommen. Am ISAS erforscht er, wie sich das Screening künftig beschleunigen lässt – und zwar mithilfe plasmabasierter Ionisierungsquellen. Da das Vorhaben des 36-Jährigen wichtige Erkenntnisse für neue Screeningmethoden liefern könnte, unterstützt die Europäische Union (EU) seine Forschung mit einem Stipendium der Marie Skłodowska-Curie Actions.
Marcos, warum kommt es beim Screening der Babys auf jede Minute an?
Bouza Areces: Unbehandelt können einige Hormon- oder Stoffwechselstörungen bei Neugeborenen zu geistigen Behinderungen, Koma oder mitunter sogar zum Tod führen. Bei AGS bildet die Nebennierenrinde beispielsweise zu wenig Aldosteron. Weil dieses Hormon für den Salzhaushalt des Körpers eine wichtige Rolle spielt, kann es bei dieser Hormonstörung zum Schock oder sogar zu Koma kommen. Letzteres ist bei fehlender Behandlung auch eine mögliche Folge der sogenannten Ahornsirupkrankheit. Weiterhin gibt es andere Erkrankungen wie Mukoviszidose, bei denen eine frühe Diagnose und Therapie die Lebensqualität und Lebenserwartung der Säuglinge verbessern kann.
Wie funktioniert das Neugeborenen-Screening?
Beim Neugeborenen-Screening handelt es sich um einen Bluttest, der innerhalb von 36 bis 72 Stunden nach der Geburt stattfindet. Dafür erhalten die Babys einen Pieks in die Ferse. Anschließend kommen ein paar Tropfen Blut auf Filterpapier. Auf dem Filterpapier lässt sich die Probe ohne viel Aufwand aufbewahren und ins Labor transportieren. Dort gibt die Blutanalyse Aufschluss über Hormon- und Stoffwechselerkrankungen. Das ist wichtig, weil Neugeborene nach der Geburt oft noch keine Symptome zeigen, obwohl sie krank sind. In Deutschland gibt es das Screening seit 1969. Zu Beginn umfasste die Reihenuntersuchung lediglich die Stoffwechselerkrankung Phenylketonurie – mittlerweile gehören zum Screening 19 Erkrankungen.
Wie bist du auf die Idee gekommen, das Screening zu beschleunigen?
Bouza Areces: Bei Erkrankungen wie AGS, wo das Zeitfenster für die initiale Therapie kurz ist, sind Stunden eine lange Zeit. Heute müssen Eltern beim Screening noch mehrere Stunden auf das Ergebnis warten. Wenn mein Vorhaben Erfolg hat, könnte sich die Wartezeit auf wenige Minuten verkürzen.
Beim Screening kommen Massenspektrometer zum Einsatz. Für die Analyse werden die Blutproben zuerst ionisiert, also in geladene gasförmige Teilchen überführt. Das ist notwendig, um diese Gasteilchen anschließend mittels Massenspektrometer auswerten zu können. Das Ergebnis sind Informationen über Arten und Mengen von Molekülen, beispielsweise Aminosäuren, die unter anderem viele Stoffwechselprozesse regulieren. Die Informationen geben Mediziner:innen Aufschluss über Erkrankungen.
Bisher durchlaufen die Blutproben vor der Analyse im Massenspektrometer verschiedene Vorbereitungsschritte. Auf diese Weise lassen sich Substanzen, die für die Analyse irrelevant sind oder zu ungenauen Messergebnissen führen würden, aus der Probe entfernen. Dieser Vorgang kann mehrere Stunden dauern. Um Zeit zu sparen, möchte ich die komplette Probe direkt auf dem Filterpapier analysieren – und zwar ohne sie vorher aufwendig vorzubereiten.
Warum hast du ausgerechnet das ISAS für deinen Forschungsaufenthalt gewählt?
Bouza Areces: Für meine Analyse habe ich mich bisher auf Stoffwechselstörungen konzentriert. Eines meiner Zielmoleküle ist die Aminosäure Phenylalanin. Sogenannte plasmabasierte Ionisierungsquellen sind ein wichtiger Teil meiner Methode. Am ISAS haben sich Forscher:innen wie PD Dr. Joachim Franzke auf miniaturisierte Plasmen für die analytische Chemie spezialisiert. Diese Expertise wollte ich für meine Forschung nutzen.
Welche Analysemethoden hast du für das Screening anwenden können?
Bouza Areces: Ich habe am ISAS verschiedene Ionisierungsmethoden getestet. Zuerst habe ich versucht, mittels Elektrospray-Ionisierung getrocknetes Blut von Kühen direkt auf Filterpapier zu analysieren. Bei diesen Experimenten war das Ergebnis allerdings keineswegs zufriedenstellend. Wegen der fehlenden Vorbereitung ermittelte das Massenspektrometer außer den Zielmolekülen wie Phenylalanin viele weitere Moleküle aus der Probe. Als nächstes habe ich daher das am ISAS entwickelte flexible Mikroröhrenplasma (Flexible Microtube Plasma, FμTP) verwendet. Die ersten Ergebnisse waren vielversprechend. Um die Versuche fortzuführen, möchte ich noch einmal ans ISAS kommen.
Ließe sich eine direkte Probenanalyse mit dem FμTP außer für das Neugeborenen-Screening für andere diagnostische Zwecke einsetzen?
Bouza Areces: Außer Blut könnten sich damit andere biologische Flüssigkeiten wie Urin zeitsparend untersuchen lassen. Möglich wäre damit eine schnelle Dopingkontrolle.
Was sind die Marie Skłodowska-Curie Actions?
Europäische Wissenschaftler:innen auf persönlicher und fachlicher Ebene fördern und Europa als Wissenschaftsstandort attraktiver machen – das sind die Ziele der Marie Skłodowska-Curie Actions. Seit 2014 finanziert „Horizont Europe“, das EU-Rahmenprogramm für Forschung und Innovation, diese Fördermaßnahmen. Außer erfahrenen Forscher:innen richtet sich das themenoffene Programm an Nachwuchswissenschaftler:innen sowie Beschäftigte im Forschungs- und Innovationssektor. Ein besonderer Fokus liegt auf den europaweiten Forschungsaufenthalten der Teilnehmer:innen. Ein Postdoctoral Fellowship unterstützt die Forscher:innen beispielsweise mit einem monatlichen Gehalt sowie einer Pauschale für Reisekosten. Die genaue Höhe der Förderung unterscheidet sich je nach EU-Mitgliedsstaat.
(Das Interview führten Bettina Dirauf und Sara Rebein.)