Dortmund, 14. Juni 2022

Prof. Dr. Matthias Gunzer leitet am ISAS die Abteilung Biospektroskopie und ist Direktor des Instituts für Experimentelle Immunologie und Bildgebung / Imaging Center am Universitätsklinikum Essen.
© ISAS
Die Antwort gibt Prof. Dr. Matthias Gunzer:
„Zunächst einmal muss man sagen, dass wir heutzutage das große Glück haben, in der westlichen Welt anstatt von AIDS nur von HIV, also dem Human Immunodeficiency Virus, sprechen zu müssen. Der Grund dafür ist der Zugang zu einer hervorragenden medizinischen Versorgung mit sogenannten hoch aktiven antiretroviralen Therapien (HAART). Diese sorgen dafür, dass bei HIV-positiven Menschen das erworbene Abwehrschwäche-Syndrom, auf Englisch Acquired Immune Deficiency Syndrome (AIDS), eben nicht ausbricht. In anderen Ländern, etwa in großen Teilen Afrikas, sieht es für Betroffene bedauerlicherweise schlecht aus. Um die Menschen dort gegen HIV zu schützen, brauchen wir nach wie vor unbedingt einen Impfstoff.
Bei einer Impfung konfrontiert man den Körper mit spezifischen Antigenen, im Falle von Viruserkrankungen wie COVID-19 oder AIDS sind das Bestandteile des auslösenden Virus. Ziel ist es, dass der Körper damit Antikörper und Abwehrzellen gegen die Antigene bildet. Das Ergebnis einer erfolgreichen Impfung ist dann eine schützende Immunantwort, die Monate oder Jahre anhalten kann.
Zu HIV-Impfstoffen forschen Wissenschaftler:innen bereits seit Jahrzehnten. Doch von mehr als 400 klinischen Studien allein zu möglichen Impfstoffen, die seit 1987 stattgefunden haben, konnte bisher keine im Endergebnis überzeugen. Das liegt aber keinesfalls daran, dass zu wenig zu HIV geforscht werden würde. Das sehen wir an den erfolgreichen Behandlungsmöglichkeiten wie HAART, die es mittlerweile gibt. Wir dürfen nicht vergessen, dass die langjährige Forschung rund um HIV auch dazu geführt hat, dass wir inzwischen beispielsweise sehr viel über die Wirkweise von Antikörpern wissen – oder auch darüber, wie man sie mit einer Impfung besonders effizient hervorruft.
Im Vergleich zum Coronavirus ist das HI-Virus jedoch unglaublich variabel: Pro Tag entstehen zehntausende neuer Kopien – bei einer einzigen Person. Jede dieser neuen Kopien trägt im Schnitt mindestens eine einzigartige Mutation in sich. Im Laufe der Jahre trägt ein einzelner Mensch daher unzählige Varianten in seinem Körper, von denen jedoch nur einige wenige auf andere übertragen werden können. Das Hauptproblem, das diese Varianten für Impfstoffe darstellen, besteht darin, dass einige Mutationen genau in den Teilen des Virus liegen, die vom Immunsystem in der Regel angriffen werden. Deshalb können solche Mutationen dazu beitragen, dass das Virus inkognito bleibt. Ein erfolgreicher Impfstoff muss eine Immunreaktion auslösen, die mit dieser Vielfalt umgehen kann, um einen umfassenden Schutz vor Infektionen zu bieten.
Außerdem ist das HI-Virus im Gegensatz zu SARS-CoV-2 ein wahrer Versteckkünstler. Teile seiner Oberfläche sind mit einer dichten Schicht aus Zuckermolekülen – dem glycan shield – überzogen. Dieses Schild bedeckt mögliche Angriffspunkte für Antikörper. Zwar hat auch das Coronavirus eine solche Zuckerschicht, jedoch sind die entscheidenden Bereiche seines Spike-Proteins unbedeckt. So können Antikörper bei SARS-CoV-2 dessen Spike-Protein erkennen und dort andocken und das Virus so neutralisieren. Auch die zweite Verstecktaktik, die das HI-Virus anwendet, ist tückisch: Das HI-Virus fügt seinen genetischen Bauplan in die DNA seines Wirts, also des Menschen, ein und legt so ein verstecktes Reservoir in den Immunzellen an. Das macht die HI-Viren für das Immunsystem unsichtbar.
Derzeit laufen sechs Phase-III-Studien, bei denen potenzielle HIV-Impfstoffe in puncto Wirksamkeit und Sicherheit an großen Patientenkollektiven untersucht werden. Unter den Impfstoff-Kandidaten sind neue Varianten wie solche, die breit-neutralisierende Antikörper hervorrufen sollen, und verschiedene auf der Basis von mRNA-Molekülen. Letztere sind vielen Menschen inzwischen aus den hoch wirksamen Corona-Impfstoffen bekannt. Die Forschung zu HIV läuft also weiter – deswegen sollten wir trotz der Herausforderungen die Hoffnung auf einen HIV-Impfstoff keineswegs aufgeben.“
(14. Juni 2022)