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Faszinierende Einblicke: virtuelle Welt im Klassenzimmer

Bochum/ Dortmund, 10. September 2024

„Ich bin noch gar nicht wieder in der Wirklichkeit angekommen“, sagt Marie (9) lachend und taumelt leicht durch den Raum. Bis vor wenigen Sekunden hatte die Grundschülerin noch eine Virtual-Reality (VR)-Brille auf und schaute in eine rein digitale Welt. Während sie sich langsam wieder im Klassenzimmer der Don-Bosco-Grundschule in Bochum zurechtfindet, hilft Kathrin Krieger dem nächsten Schüler, in die virtuelle Welt einzutauchen. Mit Dr. Jianxu Chen, Leiter der Forschungsgruppe AMBIOM – Analysis of Microscopic BIOMedical Images am ISAS ist die Wissenschaftlerin vor den Sommerferien zu Besuch in der Klasse 3a.

Marie steht im Klassenzimmer und trägt eine VR-Brille. In den Händen hält sie jeweils einen Controller.

Marie erkundet mit der VR-Brille eine digitale Welt. Die Controller in ihren Händen helfen ihr dabei. So kann sie mit der Welt interagieren und beispielsweise Dinge greifen.

© ISAS/ Clara Manthey

Die beiden Forschenden beschäftigen sich am ISAS in Dortmund mit Analysemethoden für die Gesundheitsforschung. Genauer gesagt mit Künstlicher Intelligenz (KI) für die Auswertung von Mikroskop-Aufnahmen und deren Visualisierung. Mit Grundschüler:innen über ihre Arbeit zu sprechen, ist für sie eine seltene Gelegenheit des kindgerechten Wissenstransfers. Auch für die Kinder ist der Besuch eine neue Erfahrung. Das Thema „Erweiterte Realität“ (Extended Reality, XR, s. Infobox) sorgt zunächst für viele Fragezeichen in ihren Gesichtern. Doch damit haben Chen und Krieger gerechnet und sich intensiv auf die Doppelstunde mit der Klasse vorbereitet. 

Nur sieben Dinge auf einmal

Die Kinder hören Krieger aufmerksam zu, als diese vor ihnen am Whiteboard steht. Die Forscherin fängt ganz vorne an: Was ist Realität? Was bedeutet erweiterte Realität? Was können digitale 3D-Modelle, was Fotos nicht können? Um diese Fragen zu beantworten, hat die Wissenschaftlerin einen kleinen Gedächtnistest vorbereitet. Die Kinder sollen sich verschiedene Symbole merken und später erkennen, welches fehlt. Bei nur drei Symbolen sind sie sich einig: Der Laptop! Doch danach wird es kniffliger, immer mehr Bilder und Symbole tauchen auf und den Kindern fällt es zunehmend schwerer, den fehlenden Gegenstand zu entdecken.

Das Foto zeigt Lily und Charlotte, wie sie gespannt nach vorne dem Vortrag zuhören.

Lily und Charlotte hören Krieger aufmerksam zu.

© ISAS / Clara Manthey

Der Test zeigt: Menschen können sich nur begrenzt Dinge merken. Im Durchschnitt sind es sieben Sachen, die das Kurzzeitgedächtnis auf einmal behalten kann. Krieger veranschaulicht den Kindern damit eine Herausforderung für Forschende im Mikroskopie-Labor. Ein Lichtblattblatt-Fluoreszenzmikroskop erstellt von einer einzelnen Probe wie einem ganzen Organ (beispielsweise Kiefer, Knie oder Herz einer Maus) Ebene für Ebene Aufnahmen – durchschnittlich mehr als 500 Stück. Die einzelnen Bilder setzen Biolog:innen für ihre Auswertung später am Computer zu einem 3D-Modell zusammen. Zwar hilft dieses 3D-Modell dem menschlichen Gehirn bereits, die Informationen aus den vielen Einzelaufnahmen gebündelt zu verarbeiten. Sprichwörtlich das untersuchte Organ begreifen und dadurch noch genauer fachlich untersuchen lassen sich diese Modelle allerdings mithilfe von XR-Brillen.

Wie funktionieren Sehen und Informationsverarbeitung eigentlich? Und wie nimmt der Mensch überhaupt Farben wahr? Um gemeinsam die Antworten zu finden, geht es in der 3a mit einer durchsichtigen Box voller bunter Farbkellen weiter. Jedes Kind darf sich eine Farbe aussuchen – eine Entscheidung, die sichtlich schwerfällt: Blau, Rot oder doch lieber Gelb? Neugierig greifen die Schüler:innen nach den transparenten Farbscheiben und halten sie vor ihre Augen. Der Klassenraum erscheint plötzlich in neuen Farben. Einige stellen begeistert fest, dass sie durch die Kombination von Scheiben ungeahnte Farben erzeugen können.

Marie hält sich blaue, gelbe, grüne und rote Farbkellen vor das Gesicht.

Marie sucht sich eine Farbkelle aus.

© ISAS / Clara Manthey

Erweiterte Realität

Erweiterte Realität (Extended Reality, XR) ist ein Überbegriff für immersive Technologien, die Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR) und Mixed Reality (MR) umfassen. Erstere schafft eine neue, eigenständige Welt für Nutzende. Die VR-Welt ist ein rein digitales, computergeneriertes Abbild, das komplett unabhängig von der physischen Umwelt ist. Statt die reale Welt gänzlich zu ersetzen, überlagert AR sie hingegen optisch mit digitalen Elementen. Das können digitale Bilder, Grafiken oder auch Animationen sein. MR kombiniert Elemente von VR und AR, sodass digitale und reale Objekte miteinander interagieren können.

Virtueller Einblick in den menschlichen Körper

Krieger klingelt mit einer kleinen Glocke und sofort sind wieder alle Kinderaugen bei ihr. Die erneute Aufmerksamkeit nutzt die Forscherin, um zu zeigen, was sie und Chen mitgebracht haben: eine Apple Vision Pro und eine HTC Vive Pro 2 – eine AR- sowie eine VR-Brille (s. Infobox), die alle Kinder ausprobieren dürfen. Diese XR-Brillen haben die Forschenden mitgebracht, damit die Drittklässler:innen selbst erleben können, wie es sich anfühlt, in einer virtuellen Realität zu stehen. Im virtuellen Raum, den Krieger für heute ausgewählt hat, befindet sich das Modell eines menschlichen Körpers. Sie hat die virtuelle Umgebung am ISAS entwickelt, um 3D-Forschungsergebnisse besser darzustellen. Anstelle von anderen Wissenschaftler:innen können heute die Schüler:innen mithilfe von Controllern die einzelnen Organe greifen und neu platzieren. Einige Kinder sind besonders engagiert: „Johanna nimmt den ganzen Körper auseinander“, ruft Finn (8) begeistert mit Blick auf Kriegers Laptop. Auf dem Bildschirm ist zu sehen, wie Johanna munter alle Organe aus dem Körper herausnimmt und im virtuellen Raum verteilt.

Augmented Reality – heute selbst gemacht!

Während die Schüler:innen darauf warten, die XR-Brillen nacheinander aufzusetzen, basteln sie ihre eigenen Versionen. Jedes Kind erhält eine Pappbrille, auf die es selbst-bemaltes Transparentpapier kleben kann. Julian (8), der gerade noch dabei ist, seine Brille mit dem Papier zu bekleben, hat schon klare Vorstellungen: „Ich sehe noch nichts Besonderes, dafür muss ich beide Brillengläser erst anmalen, dann sehe ich etwas Schönes“. Diejenigen wie Julian, die Kriegers Erklärungen am Anfang aufmerksam verfolgt haben, wissen: Nur wenn sie auf beide Brillengläser ein identisches Bild malen, können sie dieses am Ende auch wirklich sehen. Wie in einer AR-Welt sehen sie ihren Klassenraum als reale Umgebung gepaart mit ihren eigenen, künstlich bzw. künstlerisch erzeugten Elementen. Schon nach kurzer Zeit laufen im ganzen Klassenraum Kinder mit ihren bunten Brillen herum. Einige haben Figuren auf das Transparentpapier gemalt, andere haben phantasivoll bunte Farbwelten gestaltet.

Anna und Greta schauen durch ihre selbstbemalten Pappbrillen.

Anna und Greta mit ihren selbstbemalten Pappbrillen.

© ISAS / Clara Manthey

Julian schaut konzentriert auf seine Brille und malt sie bunt an.

Julian malt auf beide Brillengläser das gleiche Bild.

© ISAS / Clara Manthey

Wissenstransfer durch Ausprobieren

ISAS-Forschenden wie Chen und Krieger ist es ein wichtiges Anliegen, an Aktionen wie dieser teilzunehmen. Die beiden möchten den Kindern spielerisch das Thema Mikroskopie-Bilder in XR näherbringen. „Technologien wie diese sind wichtige Werkzeuge. XR eignet sich hervorragend für Kinder, da sich theoretische Wissensvermittlung mit praktischem Ausprobieren kombinieren lässt“, sagt Chen. Auch die beiden Forschenden profitieren vom Austausch: „Um Kindern etwas zu erklären, muss man sich auf die grundlegendsten Informationen konzentrieren. Sich so mit der eigenen Forschung auseinanderzusetzen und sie auf das Wesentliche herunterzubrechen, war für mich ein spannender Prozess“, resümiert Krieger.

Das BMBF fördert die MSCoreSys-assoziierte Nachwuchgruppe AMBIOM – Analysis of Microscopic BIOMedical Images unter dem Förderkennzeichen 161L0272.

(Clara Manthey / Cheyenne Peters)

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