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Die Handschrift von neuromuskulären Erkrankungen entziffern: Verbesserte Diagnose durch Gen- & Proteinsignaturen

Dortmund, 6. August 2021

Unter dem Begriff Neuromuskuläre Erkrankungen (NME) – im Volksmund Muskelschwund genannt – werden alle Krankheiten zusammengefasst, die das Zusammenspiel von Nerven und Muskeln beeinflussen. Sie können genetischer oder idiopathischer (ohne erkennbare Ursache) Natur sein, sind sehr selten und unheilbar. Charakteristisch für diese Erkrankungen, zu denen beispielsweise Polyneuropathien, Spinale Muskelatrophien oder die Duchenne-Muskeldystrophie gehören, sind eine progressive Schwäche der Skelettmuskulatur – häufig auch der Herz- oder Atemmuskulatur.

Die Diagnose kommt oft erst spät, was die Therapie verzögert oder gar verhindert. Dies schränkt die Lebensqualität der Betroffenen ein und erhöht ihre Mortalität (Sterblichkeit). Um die derzeit limitierten Behandlungsmöglichkeiten zu verbessern, braucht es ein präziseres Verständnis der molekularen Ursachen dieser NME. Dabei können sogenannte Gen- und Protein-signaturen die Diagnosestellung für NME- Patient:innen revolutionieren und die genetische Beratung verbessern. Am ISAS arbeiten daher verschiedene Arbeitsgruppen (Proteomics und Translationale Analytik) bei der NME-Forschung mit Hochdruck zusammen.

Vorhersage des genetischen Defekts & neue Klassifizierung

Die Forscher:innen verwenden Muskelbiopsien von Patient:innen und generieren daraus neue proteomische und morphologische Daten. Dafür verwenden sie Omics-Technologien. Im ersten Schritt quantifizieren sie die kausativen (also krankheitsverursachenden) Proteine, im zweiten Schritt gleichen sie die Messergebnisse mit den Resultaten der DNA-Analyse ab. Die Daten aus dem ISAS werden Teil eines Algorithmus. „Mithilfe dieses Algorithmus lassen sich zum ersten Mal Muster der Gen- und Protein-Co-Regulation bei NMEs bestimmen, um damit den krankheitsverursachenden genetischen Defekt wesentlich genauer einzugrenzen, wenn nicht sogar exakt vorherzusagen“, erklärt Dr. Andreas Hentschel, Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Translationale Analytik. Dies erlaubt, in Zusammenhang mit der histologisch-biochemischen Charakterisierung durch die Biospektroskopie, eine neue Klassifikation der erblichen und erworbenen NME Erkrankungen. Damit kann der zugrunde liegende Pathomechanismus, die Kausalkette der Körpervorgänge, die zur Krankheit führen, nachvollzogen werden. Dies ist vor allem für die Erprobung neuer Therapien wichtig.

Bild von Dr. Andreas Hentschel, Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Translationale Analytik.

Dr. Andreas Hentschel untersucht Muster der Gen- und Protein-Co-Regulation, um den genetischen Defekt bei neuromuskulären Erkrankungen genauer als bisher möglich einzugrenzen.

Was sind Omics-Technologien?

Mit dem Begriff Omics bezeichnet die Forschung molekularbiologische Methoden, beispielweise Genomics, Lipidomics, Metabolomics oder Proteomics, mit denen sich Biomoleküle aus  Gewebeproben oder anderen biologischen Proben auf globaler Ebene untersuchen lassen. Omics-Technologien sind ein wichtiger Ansatzpunkt in der personalisierten Medizin (Präzisionsmedizin), da sie große Datenmengen produzieren, die Aufschluss über Krankheitsvorgänge und mögliche Therapieansätze liefern.

Etablierter Ablauf & gesteigerte Effizienz

Im Jahr 2020 bearbeiteten die Forscher:innen ca. 300 Proben von Patient:innen zu unterschiedlichen genetisch bedingten neuromuskulären Erkrankungen und untersuchten davon anschließend 100 global-proteomisch. „Unser Jahresziel, die global-proteomischen Analysen abzuschließen, haben wir erreicht. Auch die Herausforderung, die Aufreinigung der Proben zügig anzupassen, da sie aus vielen verschiedenen Kliniken stammen, haben wir gemeistert“, resümiert Hentschel. Die massenspektrometrischen Messungen erfolgten dabei im ‚data independent acquisition‘ (DIA) Modus. Eine Auswertung dieser wurde von den Wissenschaftler:innen unter Anwendung der zuvor von ihnen erstellten Spektrenbibliothek durchgeführt. So war es ihnen möglich, im Vergleich zum bis dato gängigen Verfahren – der ,data dependent acquisition‘ (DDA) – die Analyse-Effizienz um ca. 10 bis 40 Prozent zu steigern. Außerdem begannen die Wissenschaftler:innen, idiopathische NME-Erkrankungen weiter zu untersuchen. Ende des Jahres umfasste das Inventar bereits 140 Proben.

Mittels CARS-Mikroskopie haben die ISAS-Forscher:innen seit dem Projektstart im Jahr 2019 mehr als 80 Patientenproben (insgesamt 160 Muskelbiopsieschnitte) verschiedener Krankheitseinheiten untersucht. Dabei haben sie Übersichts- und Detailmessungen vorgenommen. Von 73 Patientenproben konnten die Forscher:innen die Muskelfaserkaliber erfassen, von 40 Proben die Spektren auswerten und bei 34 Proben computergestützte Methoden verwenden. Diese umfassen die Darstellung von Intensitätsverhältnissen zwischen verschiedenen Wellenlängen und das nicht-lineare Unmixing (Entmischen) nach Heylen et al. Bei diesem Unmixing werden aus den Rohspektren, die meist Mischungen aus verschiedenen Substanzspektren sind, „reine“ Spektren entmischt, auf deren Grundlage die Abundanzen im Bild bzw. der Aufnahme dargestellt werden.

Zielgerichtete Assays etabliert

Den Forscher:innen ist es gelungen, einen zielgerichteten Assay – einen standardisierten Reaktionsablauf zum Nachweis der Gen- und Proteinsignaturen – mittels LC-MS/MS (Liquid-Chromatographie-Massenspektometrie/Massenspektometrie) zu etablieren, der eine hohe Sensitivität und Spezifität aufweist. Parallel dazu entwickelten die Forscher:innen eine weitere Methode, welche die Messzeit erheblich verkürzt. Sie haben beide Assays bereits an Patientenproben angewandt, um die Regulierung von 74 neuromuskulär relevanten Proteinen zu detektieren. Außerdem bearbeiteten sie im Jahr 2020 weitere 110 Proteine der insgesamt 380 bekannten Proteine von neuromuskulärer Relevanz. Die Wissenschaftler:innen haben die Vorauswahl und Verifizierung der proteotypischen Peptide dieser Proteine bereits abgeschlossen und konnten 2020 mit der Synthese der isotopisch markierten Standardpeptide beginnen.

(Pauline Jürgens)

Das Projekt ‚Gen und Protein-Signaturen als GPS für Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen‘ wurde vom Land Nordrhein- Westfalen unter Einsatz von Mitteln aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) 2014-2020 „Investitionen in Wachstum und Beschäftigung“ gefördert (Förderkennzeichen EFRE-0801301).

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