Dortmund, 2. August 2024
Bei den meisten Menschen befinden sich in jedem Milliliter Blut mehr als 200 Millionen Thrombozyten (Blutplättchen). Diese kleinsten Zellen des Bluts können eine große Rolle bei den global häufigsten Todesursachen spielen: Ischämische Herzerkrankungen (koronare Herzkrankheit) sowie Schlaganfälle. Thrombozyten können sich blitzschnell verketten, als Thrombus (Blutgerinnsel) ein Gefäß verstopfen und den Blutfluss stocken lassen. Auf diese Weise verursachen sie etwa Herzinfarkte und Schlaganfälle. Für die Thrombenbildung sind unter anderem Proteine an der Zelloberfläche der Thrombozyten verantwortlich. Diese steuern die Aktivierung der Thrombozyten – doch wie genau die Proteine diese regulieren, ist im Detail unklar. Daher entschlüsseln ISAS-Forschende subtile Veränderungen in der Protein-Struktur dieser Blutplättchen. Ihr Ziel: molekulare Marker für die Thrombozytenaktivierung zu identifizieren, damit Mediziner:innen künftig eine Thrombose bereits vor ihrer Entstehung erkennen und reagieren zu können.
Thrombozyten, von altgriechisch θρόμβος für „Klumpen“, sind die meiste Zeit ihrer Existenz flach und rund, wie eine Diskusscheibe. Der Körper bildet sie im Knochenmark. Die wichtige Rolle von Thrombozyten bei der Blutgerinnung ist seit dem späten 19. Jahrhundert bekannt: Wird irgendwo im Körper ein Blutgefäß verletzt, erkennen ihre Rezeptoren dies und bringen so den Thombozyten dazu, sich dort anzuheften. So entsteht ein Pfropfen oder Thrombus, der das Blutgefäß verschließt. Bildet sich ein solches Gerinnsel allerdings abseits eines „Lecks“, entsteht so eine Thrombose. Viele Menschen nehmen täglich Arzneimittel ein, die das verhindern sollen. Darunter Aspirin® (Acetylsalicylsäure), das bei Thrombozyten die Neigung reduziert, sich aneinanderzuheften. Das Medikament hemmt so die Blutgerinnung und dient unter anderem zur Prophylaxe von Herzinfarkten und Schlaganfällen.
Erschöpft und klebrig
Thrombozyten können ihre Form nicht nur drastisch und ad hoc wie bei der Blutgerinnung, sondern auch langsam und subtil verändern – und dadurch bei vielen anderen Prozessen im Körper mitspielen. So beteiligen sich die Blutplättchen etwa an entzündlichen Vorgängen, bringen sich bei der Ausbreitung von Metastasen ein und reagieren etwa auf bakterielle oder virale Pathogene (Krankheitserreger), in dem sie Thromben bilden.
„Es gibt noch keine verlässlichen Biomarker, an denen sich die unterschiedlichen Prozesse unter Beteiligung der Thrombozyten als Frühwarnsystem festmachen lassen“, sagt Prof. Dr. Albert Sickmann, ISAS-Vorstandsvorsitzender und Experte für klinische Proteomforschung. Bisher haben sich Forschende weltweit damit beholfen, Unterpopulationen von Thrombozyten zu katalogisieren und mit Namen wie etwa procoagulant (gerinnungsfördernd), coated (beschichtet), exhausted (erschöpft) oder sticky (klebrig) zu versehen.
Um die für das jeweilige Verhalten der Thrombozyten verantwortlichen Proteine zu identifizieren, haben Wissenschaftler:innen am ISAS mittels massenspektrometrischer Analysen 5.500 Proteine identifiziert, die – in veränderlichen Konstellationen – in Thrombozyten vorkommen (Thrombozyten-Proteom). Die Informationen zu jedem einzelnen dieser Proteine enthält eine von ihnen erstellte Datenbank. Gemeinsam mit Kooperationspartnern am Universitätsklinikum Essen wollen die ISAS-Forschenden nun in großflächigen Analysen herausfinden, wie sich die Thrombozyten-Proteinprofile bei Menschen mit unterschiedlichen Gesundheitszuständen und zunehmendem Alter unterscheiden. „Wir hoffen sehr, durch solche Ansätze die Mechanismen, die zu den Erkrankungen führen, besser verstehen zu lernen“, sagt Prof. Dr. Tienush Rassaf, Direktor der Klinik für Kardiologie und Angiologie des Universitätsklinikums Essen.
Weltweit frei zugängliche Datenbank
Das ISAS kann auf jahrelange Erfahrung bei der Analyse von Thrombozyten zurückgreifen. Derzeit untersuchen die Wissenschaftler:innen Thrombozyten einer Gruppe, die aus über tausend Herzkranken und gesunden Vergleichspersonen besteht. Es handelt sich dabei um die weltweit größte Studie zum Thrombozyten-Proteom. Eine ähnlich große Analyse des Bluts von Schlaganfall-Patient:innen soll folgen. „Bei den meisten Patient:innen können wir 4.000 bis 4.200 Proteine quantitativ erfassen, also mehr als 80 Prozent der gesamten Proteine eines Thrombozyten, also des Thrombozyten-Proteoms“, erläutert Sickmann. Der Biochemiker erwartet, dass die Vergleiche zwischen diesen Protein-Profilen Aufschluss über Details zur Aktivierung von Thrombozyten bringen werden. „Wir sind außerdem gespannt, ob wir Hinweise finden werden, warum es bei einem Menschen zum Schlaganfall und bei einer anderen zum Herzinfarkt kommt“, sagt Sickmann. Ihre Datenbank zum Thrombozyten-Proteom möchten die ISAS-Forschenden nach Abschluss der Analysen öffnen, damit möglichst viele Wissenschaftler:innen weltweit für medizinische Fragestellungen darauf zugreifen können.
Eine Handvoll Proteine unter Tausenden finden
Bei ihren Multi-Omics-Analysen (s. Statement Dr. Fiorella Solari weiter unten) kommen die Wissenschaftler:innnen am ISAS mit winzigen Probenmengen aus. Genauer gesagt reichen zehn 10 Milliliter Blut, um komplexe molekulare Mechanismen aufzuklären und Muster biomolekularer Veränderungen zu identifizieren, die mit der Aktivierung oder Hemmung von Blutplättchen verbunden sind. 2023 fasste das Team aus Forschenden um Sickmann in einem Übersichtsartikel im Journal Current Opinion in Chemical Biology die für die Analyse von Thrombozyten infrage kommenden Methoden zusammen. Außer der Proteomics sind dies Transcriptomics, Phosphoproteomics, N-Terminomics, Glycoproteomics sowie Lipidomics. Sie kommen zu dem Schluss, dass die weitere Integration von Multi-Omics-Technologien neue Perspektiven für die Aufklärung von molekularen und biochemischen Prozessen unter anderem bei der Thrombozytenaktivierung eröffnen wird.
Multi-Omics: Von Proteomics über N-Terminomics bis zu Transcriptomics
Omics-Technologien sind molekularbiologische Methoden wie Genomics, Lipidomics, Metabolomics oder Proteomics, mit denen wir Forschenden Biomoleküle aus beispielsweise Gewebeproben oder Blut auf globaler Ebene untersuchen. Da sie mehre molekulare Ebenen umfassen, können Multi-Omics-Technologien im Ergebnis ein ganzheitliches Bild einer Probe abbilden. Omics-Technologien sind ein wichtiger Ansatzpunkt in der personalisierten Medizin, da sie große Datenmengen produzieren, die Aufschluss über Krankheitsvorgänge und mögliche Therapieansätze liefern.
Proteomics beinhalten die Analyse des Proteoms, der Gesamtheit aller Proteine in einem Organismus; Phosphoproteomics konzentrieren sich auf das Zufügen und Entfernen von Phosphaten als molekulare Schalter an Proteinen; N-Terminomics sind ein Bestandteil der Proteomics und untersuchen den Abbau von Proteinen; Glycoproteomics haben den Fokus auf Proteine, die Kohlenhydrate als Folge von sogenannten posttranslationalen Modifikationen enthalten; Transcriptomics umfasst die Untersuchung der relativen Häufigkeit von RNA-Transkripten; Lipidomics bezieht sich auf die breit angelegte Analyse des gesamten Lipidbestands.“
Dr. Fiorella Solari ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Proteomics
Belastbare Parameter für die klinische Diagnostik
Das Erstellen der molekularen Profile für die Datenbank zum Thrombozyten-Proteom ist aufwendig. „Vermutlich müssen sich von den Tausenden von Proteinen in einem Thrombozyten nur eine Handvoll verändern, um die Gesundheit eines Menschen zu beeinflussen. Und weil die Unterschiede bei den Proteinen potenziell so klein sind, müssen wir das Blut von sehr vielen Erkrankten und Gesunden vergleichen, um sie zu finden“, erklärt Sickmann.
Mittelfristig hoffen die Wissenschaftlerinnen, für die klinische Diagnostik belastbare Parameter für Krankheiten wie Herzinfarkte oder Schlaganfälle mithilfe der Protein-Profile zu identifizieren. Die Erkenntnisse aus den Analysen könnten womöglich auch Patient:innen helfen, deren Blutgerinnung durch eine genetische Erkrankung vermindert ist. Dies ist beispielsweise der Fall bei der Glanzmann-Thrombasthenie, an der weltweit ein Mensch von einer Million erkrankt. Den Betroffenen fehlt in den Thrombozyten ein Rezeptor, wodurch diese sich weniger gut zusammenlagern. Bleibt die Erkrankung undiagnostiziert, kann dies lebensbedrohlich sein, weil die Betroffenen etwa bei kleinen Operationen leicht gefährlich viel Blut verlieren können.
(Ute Eberle)