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Leberzirrhose: Wandernde Immunzellen als Frühwarnsystem

Dortmund, 13. März 2024

Hepatitis B und C, aber auch eine Fettleber, die durch hohen Alkoholkonsum oder Übergewicht entsteht, sind die häufigsten Ursachen einer Leberzirrhose. Erkrankungen der Leber verlaufen oft schleichend und anfangs häufig symptomlos. Klar ist aber: Je früher eine Leberzirrhose behandelt wird und Komplikationen erkannt werden, umso höher sind die Überlebenschancen der Patient:innen. Einen neuen Ansatz, lebensgefährliche Verschlechterungen wie Infektionen und Organversagen frühzeitig zu diagnostizieren, hat der ISAS-Immunologe Professor Dr. Matthias Gunzer entwickelt. Die Beweglichkeit bestimmter Immunzellen im menschlichen Körper könnte dabei helfen, eine bevorstehende Verschlechterung des Gesundheitszustandes vorherzusagen.

Wenn der menschliche Körper das allmähliche Versagen der Leber nicht mehr ausgleichen kann, droht Patient:innen eine akute Dekompensation (AD) der Leberzirrhose. Zu dieser rasch eintretenden Komplikation kommt es durch Entzündungsreaktionen und fehlerhafte Immunantworten. Manche Patient:innen entwickeln eine Sepsis (Blutvergiftung) oder rasch ein Akut-auf-chronisches Leberversagen (acute-on-chronic liver failure, ACLF) , bei dem weitere Organe wie Niere oder Gehirn versagen. Da es derzeit etwa kaum Therapien für das ACLF gibt, versterben manche Patient:innen innerhalb von Tagen.

In der Vergangenheit kam die Forschung zu der Erkenntnis, dass immunologische und entzündliche Mechanismen eine entscheidende Rolle bei der Progression der Leberzirrhose spielen. Eine schwere Dysregulation des Immunsystems ist eine Folge der Leberzirrhose und der Grund für die hohe Empfänglichkeit der Betroffenen für Infektionen.

Die Lebenserwartung von Patient:innen mit Leberzirrhose hängt davon ab, ob und welche krankheitsassoziierten Komplikationen auftreten und frühzeitig erkannt werden. „Bisher haben wir in der Medizin keinerlei Möglichkeiten, Komplikationen wie Infektionen oder Organversagen vorherzusagen. Und das ist ein sehr großes Problem, denn so laufen wir jederzeit Gefahr, von Ereignissen überrollt zu werden und Patient:innen zu verlieren”, sagt Prof. Dr. Christian Lange, Leiter des Leber Centrums am Klinikum der Ludwig-Maximilian-Universität München. Er erklärt: „Um rechtzeitig handeln zu können, beispielsweise mit einer Antibiotika-Gabe oder gar einer Lebertransplantation, müssten wir möglichst früh Kenntnis über eine weitere Verschlechterung der Lebensfunktionen wie Organversagen oder Infektionen erhalten. Doch ein solcher Marker fehlte bislang.“

Das Bild zeigt ein Porträt von Prof. Dr. Christian Lange.

Prof. Dr. Christian Lange leitet das Leber Centrum am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München.

© bildwerkeins - paul walther

LEBERZIRRHOSE

Obwohl die Leber ein lebenswichtiges Organ ist, wird ihre zentrale Bedeutung für den menschlichen Körper oft unterschätzt. Sie übernimmt nicht nur das Entgiften und die Verdauung von Fett, sondern auch die Speicherung von Energie. Zwar ist die Leber als einziges inneres Organ in der Lage, sich selbst zu regenerieren – doch das nur bis zu einem gewissen Grad der Schädigung. Ein führendes Problem des weltweiten Gesundheitswesens stellt die Leberzirrhose dar und auch in Industrienationen wie Deutschland ist die Leberzirrhose keine Seltenheit. Bei dieser Erkrankung wird das Lebergewebe zunehmend zerstört und durch Bindegewebe ersetzt. Das Gewebe verhärtet, vernarbt und schrumpft zudem auch. Deswegen hat die Krankheit auch den umgangssprachlichen Name Leberzirrhose: „Schrumpfleber“.  Die Leber kann dann ihre lebenswichtigen Aufgaben nur noch unvollständig oder gar nicht mehr erfüllen

Um den Gesundheitszustand von Betroffenen mit Leberzirrhose zu überwachen und möglichst frühzeitig drohende Komplikationen zu erkennen, könnte die funktionelle Analyse spezieller Immunzellen hilfreich sein. Die Blutstammzellen im Knochenmark bilden als Reaktion auf Infektionen vermehrt neutrophile Granulozyten, die dann in Richtung des Infektionsherdes wandern. Und genau diese Wanderung hat der Immunologe Prof. Dr. Matthias Gunzer im Visier. Er ist Leiter der Abteilung Biospektroskopie am ISAS und Direktor des Instituts für Experimentelle Immunologie und Bildgebung am Universitätsklinikum Essen. „Schon seit über hundert Jahren wissen wir, dass sich Neutrophile bewegen. Mittlerweile verstehen wir sogar bis ins molekulare Detail, wie die Immunzellen dies tun und welche Proteine dafür intrazellulär zuständig sind”, berichtet er.

In der medizinischen Praxis bleibt dieses Wissen bisher aber ungenutzt; es fehlt an funktionellen Untersuchungen des menschlichen Blutes. Man schaut sich je nach Erkrankungsbild zwar die Anzahl der Immunzellen an, untersucht jedoch nicht, ob sie normal funktionieren oder nicht. Es kann also sein, dass das Blutbild zahlenmäßig im Normbereich ist – aber die Funktion der Neutrophilen, wie ihre Bewegung, trotzdem eingeschränkt ist.

Prof. Dr. Matthias Gunzer leitet die Abteilung Biospektroskopie und die Forschungsgruppe Biofluoreszenz am ISAS. Er ist außerdem Direktor des Instituts für Experimentelle Immunologie und Imaging am Universitätsklinikum Essen.

© ISAS / Hannes Woidich

NEUTROPHILE GRANULOZYTEN

Diese Immunzellen übernehmen im menschlichen Körper wichtige Aufgaben. Neutrophile Granulozyten sind vor allem verantwortlich für die Erstabwehr von Krankheitserregern wie Bakterien oder Pilzen. Dazu sind sie beispielsweise in der Lage, Mikroorganismen und andere körperfremde Strukturen zu erkennen und abzutöten oder aufzufressen.

Wanderung der Neutrophilen Granulozyten als potenzieller Marker

Gunzer hat einen Assay (Labortest) entwickelt, der das Wanderungsverhalten der Neutrophilen analysiert. Die Ergebnisse könnten Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand zulassen und als Marker eine Früherkennung von Komplikationen ermöglichen. Kurzum: Eine routinemäßige und regelmäßige Messung der Bewegung von Neutrophilen könnte Mediziner:innen als Frühwarnsystem dienen.

So entstand die Idee der Zusammenarbeit zwischen Lange und Gunzer. Die große Frage: Kann das Bewegungsverhalten der neutrophilen Granulozyten prognostizieren, ob sich der Gesundheitszustand von Patient:innen mit Leberzirrhose innerhalb weniger Tage oder Wochen verschlechtern wird? Lange und Gunzer beschlossen, mit ihren Teams mittels des standardisierten Wanderungsassays die Migration der Neutrophilen im Blut von Betroffenen zu charakterisieren.

Die Wissenschaftler:innen isolierten die Neutrophilen mithilfe der immunmagnetischen Separation aus dem Blut von 125 Leberzirrhose-Patient:innen im Leber Centrum mit unterschiedlichen Ausprägungen der Erkrankung sowie aus dem Blut von 24 gesunden Personen. Im Experiment gaben die Forschenden drei verschiedene Wirkstoffe (das chemotaktische Formylpeptid f-Met-Leu-Phe und die Chemokine CXCL1 und CXCL8) hinzu, von denen man weiß, dass sie die Wanderung der Neutrophilen auslösen. Mit einem Zellkulturmikroskop machten sie eine Stunde lang alle acht Sekunden Aufnahmen von den Neutrophilen. Diese Aufnahmen fügten die Wissenschaftler:innen anschließend zu Videofilmen zusammen, um die Bewegung der Zellen im Zeitverlauf automatisiert auswerten zu können. Weiterhin untersuchten sie mittels Durchflusszytometrie den Zusammenhang zwischen der Neutrophilen-Migration und der Expression von Chemokinrezeptoren und Aktivierungsmarkern auf Neutrophilen.

DURCHFLUSSZYTOMETRIE

Mithilfe eines Durchflusszytometers lassen sich beispielsweise Moleküle wie Proteine auf der Oberfläche und im Inneren einzelner Zellen quantitativ und in rasantem Tempo bestimmen. Das Gerät folgt dabei einem physikalisch-chemischen Prinzip: In einem Flüssigkeitsstrom werden Zellen transportiert. Sie fließen schnell an einem Laserstrahl vorbei und werden durch die Streuung des sichtbaren Lichts oder durch Fluoreszenz analysiert. Die Zellen beeinflussen darüber hinaus das Laserlicht abhängig von ihrer Größe, der Struktur ihrer Membran oder dem Gehalt an intrazellulären Strukturen.

Unterschiedliche Migrationsmuster erkennbar

Im Ergebnis konnte die Studie tatsächlich besondere Migrationsmuster bei Neutrophilen von Patient:innen mit Leberzirrhose aufdecken, die ein hohes Risiko für die Entwicklung von Komplikationen haben. So kamen die Wissenschaftler:innen um Lange und Gunzer zum Schluss, dass insbesondere ein großer Anteil an unbeweglichen Neutrophilen und eine hohe Durchschnittsgeschwindigkeit der sich bewegenden Neutrophilen charakteristisch sind für ein hohes Risiko, in den kommenden sieben bis 30 Tagen eine Sepsis oder ein ACLF zu entwickeln oder sogar zu versterben. 

Im Ergebnis hat die neue Analyse der Neutrophilen gezeigt, dass es möglich ist, bei Patient:innen mit Leberzirrhose das Verhalten dieser Immunzellen regelmäßig zu beobachten und festzustellen, wenn sich dabei pathologische Migrationsmuster entwickeln. Bis jedoch die Untersuchung für Betroffene in der Klinik Standard werden kann, müsste der experimentelle Ansatz mithilfe maschineller Algorithmen vereinfacht und automatisiert werden, sodass sich der Bluttest schnell und mit wenig Personalaufwand routinemäßig durchführen ließe. „Wenn man dieses Verfahren in die Klinik bringen könnte, wäre erstmals eine Früherkennung von Infektionen und Organversagen bei Patient:innen mit Leberzirrhose möglich. Das würde uns Mediziner:innen in die Lage versetzen, frühzeitig therapeutische Maßnahmen zu ergreifen und das Leben von Betroffenen zu retten“, sagt Lange.

Beweglichkeitstest auch bei anderen Krankheitsbildern einsetzbar

Die Beweglichkeitsanalyse der neutrophilen Granulozyten ist übrigens nicht auf den Einsatz bei Patient:innen mit Leberzirrhose beschränkt. Gunzer: „Bereits im Jahr 2018 konnten wir zeigen, dass sich der Schweregrad einer Vorstufe der Leukämie über das Wanderungsverhalten der Neutrophilen Granulozyten nachweisen lässt. Eine Früherkennung wäre auch bei anderen Krankheitsbildern außer Blutkrebs und Leberzirrhose denkbar.“

(Christine Kirchhoff)

Lesetipp

Langer, M.-M., Sichelschmidt, S., Bauschen, A., Bornemann, L., Guckenbiehl, S., Gunzer, M., Lange, C.M. (2022). Pathological neutrophil migration predicts adverse outcomes in hospitalized patients with liver cirrhosis. Liver Inernational, 43(4), 896-905. https://doi.org/10.1111/liv.15486.

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