Dortmund, 2. Mai 2024
Lange bevor es Leben auf der Erde gab, gab es bereits Schwefelwasserstoff (H2S). Das übel riechende Gas wurde von den unzähligen Vulkanen an der urzeitlichen Erdoberfläche ausgestoßen, sättigte die Atmosphäre und löste sich in den Ozeanen auf. Dort bildete es einen der Bausteine für die Biomoleküle, aus denen sich später lebende Organismen entwickelten. Obwohl Schwefelwasserstoff als hochgiftig gilt, wenn es eingeatmet wird, zeigen neue Forschungsergebnisse, dass H2S in unseren Zellen noch immer viele lebenswichtige Funktionen erfüllt. Ein Team von ISAS-Wissenschaftler:innen, das Pionierarbeit bei der Erforschung der Funktionsweise von H2S im menschlichen Körper leistet, hat kürzlich herausgefunden, dass Schwefelwasserstoff eine wichtige Rolle für die Sauerstoffversorgung im Blut spielt.
Wir kennen Schwefelwasserstoff als den Gestank, der aus Abwasser und faulen Sümpfen aufsteigt. In unserem Körper erfüllt H2S aber eine wichtige Funktion. Der Stoff gehört zu einer Gruppe gasförmiger Moleküle, den sogenannten Gasotransmittern, die Signale innerhalb und zwischen Zellen übertragen können. „All die kleinen Moleküle, die in der Ursuppe zu Beginn des Lebens existierten, befinden sich noch immer in unseren Zellen“, sagt Dr. habil. Miloš Filipović, Leiter der ISAS-Arbeitsgruppe ERC-Sulfaging (eine Kombination der englischen Wörter für Schwefel und Alterung. Sie bezeichnen die Schwerpunkte der Arbeit der Gruppe, die durch einen Zuschuss des Europäischen Forschungsrats finanziert wird). Noch bemerkenswerter ist die Tatsache, dass H2S für die Funktion des Körpers so wichtig zu sein scheint, dass „jede Zelle ihr eigenes Sulfid produziert“.
Könnte H2S dabei helfen, den Sauerstoffgehalt im Blut zu regulieren?
Filipović war überrascht, als er entdeckte, wie einige wichtige zelluläre Mechanismen auf einzigartige Weise auf H2S angewiesen sind. Gemeinsam mit Forschenden an der Universität von Chicago (Illinois, USA) untersuchte Filipović kürzlich die Rolle von H2S bei der Aktivierung des Glomus caroticum (Karotisdrüse), einer kleinen Zellgruppe, die an der Gabelung der inneren und äußeren Halsschlagader sitzt.
Die Hauptaufgabe des Glomus caroticum besteht darin, zu überwachen, wie viel Sauerstoff und Kohlenstoffdioxid jeweils im Blut gelöst sind. Unser Körper braucht Sauerstoff, um zu funktionieren, aber bestimmte Faktoren können dazu führen, dass er nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt wird. Beispiele dafür sind Erkrankungen von Herz und Lunge oder die häufig vorkommende Schlafapnoe, bei der Betroffene an nächtlichen Atemaussetzern leiden.
Wenn das Glomus caroticum einen sinkenden Sauerstoffgehalt im Blut – eine sogenannte Hypoxie – erkennt, sendet die Drüse Signale an den Hirnstamm, der wiederum einen Prozess anstößt, der Herzleistung und Atemfrequenz steigert. „Das ist der Grund, warum Menschen, die unter Schlafapnoe leiden, wieder zu atmen beginnen“, erklärt Filipović. „Es ist eine Art Überlebensmechanismus."
Persulfidierung als natürlicher Sauerstoffsensor
Ältere Studien deuten darauf hin, dass H2S eine wichtige Rolle als Vermittler dieses Prozesses spielt. Die zugrundeliegenden Signalmechanismen waren jedoch bislang unklar. In ihrer Studie verwendeten Filipović und seine Kolleg:innen ein leistungsstarkes Analyseverfahren namens MS/MS-Analyse oder auch Tandem-Massenspektrometrie, um das Protein Olfr78 zu untersuchen. Es gehört zur Familie der Geruchsrezeptoren, spielt aber im Glomus caroticum eine zentrale Rolle bei der Sauerstofferkennung.
Bei der MS/MS-Analyse selektiert ein Massenspektrometer ein bestimmtes Ion und zerlegt es in kleine Teile. Diese werden analysiert, um Informationen über die Molekularstruktur des ursprünglichen Teilchens zu erhalten. Als die Forschenden das Verfahren auf Olfr78 anwandten, stellten sie fest, dass der relative Sauerstoffmangel im Blut dazu führt, dass sich mehr Schwefelwasserstoffmoleküle als zuvor in der Zelle an Olfr78 binden. Dieser Prozess wird als Persulfidierung bezeichnet. In diesem Fall ist die Persulfidierung möglich, weil das Sulfid dort sitzt, wo sich normalerweise Sauerstoffmoleküle befinden. Nimmt die Anzahl der persulfidierten Olfr78-Moleküle in den Zellen zu, löst dies eine Reihe biochemischer Prozesse aus, die letztlich unseren Herzschlag und unsere Atmung hochregulieren. Anders ausgedrückt: H2S ist das entscheidende Signal, das das Glomus caroticum in Aktion versetzt. Die Studie, die diesen Prozess detailliert beschreibt, wurde im Juli 2023 in der Fachzeitschrift Science Advances veröffentlicht.
Lesetipp
Peng, Y.-J., Nanduri, J., Wang, N., Kumar, G. K., Bindokas, V., Paul, B. D., Chen, X., Fox, A. P., Vignane, T., Filipović, M. R., Prabhakar, N. R.
(2023). Hypoxia sensing requires H2S-dependent persulfidation of olfactory receptor 78. Science Advances, eadf3026. https://doi.org/10.1126/sciadv.adf3026.
Ein vielseitiger Schutzmechanismus für Zellproteine
Andere Forschungsprojekte von Filipović deuten bereits darauf hin, dass ein ähnlicher Prozess, an dem Schwefelwasserstoff und Sauerstoff beteiligt sind, dem Körper auch bei der Bekämpfung von Alterungsprozessen helfen könnte. Denn so wichtig Sauerstoff für den Körper auch ist – dieser Stoff setzt die Zellen auch hochreaktiven Versionen von Sauerstoffmolekülen, den sogenannten Sauerstoffradikalen, aus. Dieser oxidative Stress kann Proteine und andere lebenswichtige Zellbestandteile schädigen.
Die Persulfidierung macht die Proteine widerstandsfähiger gegenüber solchen Schäden. Filipović und seine Arbeitsgruppe haben herausgefunden, dass sich Schwefelwasserstoff an reaktive Sauerstoffmoleküle bindet, die an Proteine angedockt haben. Dabei entsteht eine Sulfid-Sauerstoff-Verbindung, die dann biochemisch abgespalten werden kann, so dass das Protein wieder seine ursprüngliche intakte Form annimmt. Dieser Schutzmechanismus ist besonders wichtig für Proteine, die die Aminosäure Cystein enthalten, „da Cystein am empfindlichsten“ auf sauerstoffinduzierte Schäden reagiert, so Filipović. „Wir glauben, dass dies mit Anti-Aging-Effekten zusammenhängt, die zu einem längeren und gesünderen Leben führen könnten.“
Die Bedeutung von H2S für den Alterungsprozess
Leider ist unser Körper mit zunehmendem Alter immer weniger in der Lage, Schwefelwasserstoff zu produzieren, wodurch unsere Zellen anfälliger für Schäden werden. Eine verminderte Persulfidierung wird mit altersbedingten Krankheiten in Verbindung gebracht, die von Herz-Kreislauf-Problemen über Krebs bis hin zu neurodegenerativen Erkrankungen reichen. „Wir versuchen zu verstehen, wie es dazu kommen kann und ob es eine Möglichkeit gibt, wie wir hier eingreifen können“, sagt Filipović.
Seit Kurzem untersucht seine Gruppe eine bestimmte Verbindung, die von Pflanzen und Pilzen erzeugt wird. Diesen sogenannten sekundären Pflanzenstoff setzt H2S bei der Verstoffwechselung im Körper frei. Gemeinsam mit Kooperationspartnern der Universität Belgrad, der Universität Cambridge und der Universität Heidelberg begannen die Wissenschaftler:innen, diese Substanz an Würmer und Nagetiere zu verfüttern. Man hatte zunächst nur mit „leichten Effekten“ gerechnet. Die ersten Ergebnisse waren jedoch vielversprechend. Die Würmer – Filipović arbeitet mit dem Modellorganismus C. elegans, der in der Regel nach 20 Tagen stirbt – lebten länger. Erste Versuche mit Nagetieren erwiesen sich ebenfalls als sehr aussichtsreich, da alternde Mäuse und Ratten, die die Substanz gefressen hatten, einen merklichen Energieschub erfuhren.
Es gibt natürlich noch viel zu tun, bevor Filipović und seine Kolleg:innen weitere Ergebnisse veröffentlichen können. Einige Teammitglieder haben die Substanz jedoch bereits in ihre eigene Ernährung integriert. „Es handelt sich um eine Substanz, die bereits auf dem Markt erhältlich ist und in der Humanmedizin eingesetzt wird“, erklärt er. Filipović geht davon aus, dass das Interesse an H2S weiterhin groß sein wird. „Unser alle zwei Jahre stattfindendes internationales Treffen zum Thema Schwefelwasserstoff zieht inzwischen 150 bis 200 Wissenschaftler:innen an. Und das nur für dieses eine, sehr spezielle Molekül.“
H2S SCHÜTZT ZELLEN AUF EINE WEITERE ÜBERRASCHENDE WEISE
Kürzlich entdeckte Filipović eine weitere Art, auf die H2S Zellproteine zu schützen scheint: durch eine subtile Veränderung ihrer biophysikalischen Eigenschaften. Wenn sich Proteine in der engen Zelle zusammendrängen, „schmelzen“ sie oft und werden im Wesentlichen flüssig, sagt der Biochemiker. „Man sieht dann eine Art Lipidtröpfchen, das aber eigentlich ein Proteintröpfchen ist.“ Durch dieses „Schmelzen“ können sich die Proteine enger aneinanderschmiegen. Das macht sie aber auch anfällig für Fehlfaltungen und Aggregatbildung, was wiederum laut Filipović „alle möglichen Probleme“ nach sich ziehen kann. Im Gehirn beispielsweise werden Amyloid-Aggregate mit Alzheimer und anderen neurodegenerativen Erkrankungen in Verbindung gebracht. Schwefelwasserstoff scheint davor zu schützen, indem er verhindert, dass Proteintröpfchen vollständig zusammenfallen und Aggregate bilden“, so Filipović. Er ergänzt: „Damit hatten wir nicht gerechnet.“
Für Sulfaging wurden Fördermittel des Europäischen Forschungsrats (ERC) im Rahmen des Programms der Europäischen Union für Forschung und Innovation „Horizont 2020“ bereitgestellt (Finanzhilfevereinbarung Nr. 864921).